Offener Brief an die E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft
(Langfassung)
Betrifft: Rezension meines Buches über den Sandmann im E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 2008 durch Thomas Weitin
Es ist wohl selbstverständlich, dass der Verfasser eines jeden Beitrages zur Forschungsliteratur auch mit für ihn unangenehmer Kritik rechnen muss. Davon lebt schließlich der Diskurs, davon nähren sich Kontroversen, und das hält die Diskussion in Gang. Ich bin sehr interessiert an einer lebendigen Diskussion. Niemand mehr als ich selbst ist daher interessiert an einem Einspruch gegen Thesen, die ich in den Raum stelle, solange er auf sachlichen Argumenten beruht.
Den Boden jeder sachlichen und wissenschaftlich seriösen Auseinandersetzung verlassen hat jedoch jener Text, den Thomas Weitin in Ihrem Jahrbuch 2008 als Besprechung meines Buches über den Sandmann präsentiert.
Ich habe in meinem Buch („Körper und Diskurs. Zur Thematisierung des Unbewußten in der Literatur anhand von E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann“, 2006) einige Thesen aufgestellt, die der durch die Tradition der Forschungsliteratur gängigen Lesart des Sandmanns (insbesondere der stereotypen, psychoanalytisch geprägten Einordnung Nathanaels in das Krankheitsbild des „Wahnsinns“ und des „Narzissmus“) bewusst scharf widersprechen.
Daraufhin erscheint in Ihrem Mitteilungsorgan eine Besprechung meines Buches, welche offensichtlich von vornherein darauf abzielt, meine Arbeit abzuwerten und ein Vorurteil gegen sie zu produzieren, sich aber dabei gar keine Mühe macht, tatsächlich auf mein Buch und seinen Inhalt einen Bezug zu nehmen.
So bezeichnet Rezensent Weitin vorweg meine Untersuchung als eine „psychoanalytische“ (natürlich nur, um sich sofort über psychoanalytische Arbeiten abfällig zu äußern) - obwohl sie dies gar nicht ist.
Ganz im Gegenteil ging es mir um eine Beleuchtung des problematischen Bezugs psychopathologischer Deutungen (insbesondere der von der Sekundärliteratur überstrapazierten „Narzissmus“-These) zur gesellschaftlichen Macht, mein Buch leistet im Kern eine Analyse der „Mechanismen der Diskursmacht und der familiären bzw. gesellschaftlichen Ausschließung, die unaufhörlich im Text zirkulieren und in die Nathanaels Existenz von Kindesbeinen an bis zu seinem Grab, so könnte man sagen, eingebettet ist.“ (S. 259 meiner Arbeit)
Das aber wird von Rezensent Weitin nicht mit einem Wort erwähnt, stattdessen vermerkt er schon ganz am Beginn seiner sogenannten Besprechung über mein Buch fälschlicherweise und in abfälligem Tonfall: „Dahinter verbirgt sich der Versuch, den gleichfalls in großer Zahl vorliegenden psychoanalytischen Interpretationen […] eine weitere hinzuzufügen. Über die Notwendigkeit dieses Vorhabens kann man streiten […]“ Im nächsten Satz geht er aber auch bereits auf den Klimax seiner polemischen Rhetorik zu und bezeichnet dieses „Vorhaben“, das er meiner Arbeit unterschiebt, als „misslungen“. - Diese Feststellung ist absurd, weil er meinem Buch ein „Vorhaben“ unterstellt, das es gar nicht hat.
Ganz im Sinne dieser eigentümlichen rhetorischen Strategie behauptet Weitin, ich verbreite nur sowieso schon seit langem bekannte „Gemeinplätze“, man sei „Anspruchsvolleres“ als meine Arbeit gewohnt, und es sei keine „präzise These“ erkennbar.
In diesem Zusammenhang hat Weitin auch keine Scheu vor einer offensiven rhetorischen Verwirrung literaturwissenschaftlicher Grundkategorien, wenn er meine „argumentative Armut“ belegen will und mich lächerlich zu machen versucht, indem er den ersten Satz meiner Arbeit zitiert (der von der „Faszination Hoffmanns“ spricht, die von der „unmittelbaren Übersetzung von emotionalem Inhalt in sprachliche Form“ ausgehe). Denn der aus dem Kontext gerissene Satz ist natürlich eine These, kein Argument. Die Erläuterung, was damit gemeint ist, und die Argumentation schließen sich ganz konventionellerweise an diesen Satz erst an. Von meiner Argumentation erzählt Weitin aber gar nichts. Er selbst bringt folgerichtig kein einziges Argument, was an meiner These eigentlich nicht stimmen sollte, er begnügt sich damit, polemisch auf das weit verbreitete Vorurteil gegen Begriffe wie „Emotion“ und „Unmittelbarkeit“ zu setzen.
Ich lasse dahingestellt, ob man auf bloße „argumentative Armut“ mit der Art Bluthochdruck reagiert, den Weitin hier demonstrativ zur Schau stellt, wenn er mein Buch als „ärgerlich“ bezeichnet, und sie erfordert auch sicher nicht jene Mischung aus aggressiver Abfertigung und unseriöser Falschinformation, mit der er mein Buch bzw. die Leserschaft quer durch seine ganze Rezension bedenkt.
Mit seiner willkürlichen Rhetorik erreicht Weitin jedenfalls eins: davon abzulenken, dass es in meinem Buch um etwas ganz anderes geht als darum, den Sandmann erneut „psychoanalytisch“ zu interpretieren, und dass der Grund für die negative Rezension daher wohl auch ein ganz anderer ist, einer, der natürlich von ihm verschwiegen wird, weil dann seine Parteilichkeit allzu offensichtlich würde.
Es sind, so scheint mir, keineswegs „Gemeinplätze“, die die Wut des Herrn Rezensenten auf mich herabbeschwören, sondern ganz im Gegenteil: die radikale Andersheit meines Zugangs sowie der betont kritische Gestus gegenüber den bisherigen Produkten der Forschung. Nicht weil meine Arbeit „psychoanalytisch“ ist, wird sie verrissen, sondern ganz im Gegenteil: weil es sich dabei um eine radikale sozialphilosophische Grundsatzkritik an der Sekundärliteratur und an der in ihr dominierenden psychoanalytisch/psychia-trisch orientierten Standardthese vom „Narzissmus“ (genau die ist nämlich der wahre Gemeinplatz der Forschung) handelt. Genau diese Kritik, die den tatsächlichen Kern meiner Arbeit ausmacht, wird von Weitin darum auch vollkommen verschwiegen, die muss er verschweigen, weil ihr Vorhandensein auf sehr merkwürdige Weise seiner Behauptung vom „Gemeinplatz“ meiner Thesen widerspräche.
Wirklich niveaulos aber wird Weitin im letzten Satz seiner Besprechung, wenn er sich darüber lustig macht, dass ich das Buch meiner (im übrigen verstorbenen) Mutter gewidmet habe. Das berührt mein Privatleben, und solche unappetitlichen persönlichen Untergriffe sollten in einer seriösen wissenschaftlichen Zeitschrift eigentlich keinen Platz haben.
Mit vorzüglichen Grüssen
Ortwin Rosner
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